Und wieder neigt sich das Jahr allmählich seinem Ende entgegen. Kalte Nächte färben Gras und Büsche weiß. Die Feuchtigkeit kriecht unangenehm in die Schuhe und über den Wiesen und Weiden hängen des Morgens die ersten dichten Nebelschwaden und scheinen alles Licht und jeden Laut zu verschlingen. Der November ist ein trister Monat, dunkel, trübsinnig und ungemütlich. Und doch haben auch die dunklen Tage ihre Qualitäten. Der elende Weihnachtsstress ist noch fern. Man kann entspannen, Musik hören und vor sich hinträumen. Also ab unter die warme Kuscheldecke und einen heißen Kräutertee schlürfend ein Buch lesen. Darauf hatte man sich doch schon den ganzen Sommer über gefreut. Was darf es denn diesmal sein. Ein Märchenbuch vielleicht?
Die Märchenhexe
In diesem Monat wollen wir uns einem Personenkreis zuwenden, der vielleicht schon von einigen sehnsüchtig erwartet wurde: der Hexe. Ich denke, uns ist allen klar, dass die wahren Hexen nur arme, harmlose Frauen waren, die völlig zu unrecht gefoltert und auf das Widerlichste getötet wurden. Nichts desto trotz haben diese Vorurteile die damals lebenden Menschen beeinflusst und somit auch Einzug in die Welt der Märchen gefunden.
Die böse Hexe
Die wohl bekannteste Märchenhexe ist eine alte, hässliche Vettel, die nicht davor zurückschreckt, Kinder unentgeltlich für sich schuften zu lassen, und auch einen guten Hänselbraten nicht verschmäht. Sie lebt in einem Haus aus Lebkuchen und Zuckerguss, ganz allein, irgendwo mitten in einem Wald, wo es so dunkel und kalt ist, dass es schon an Dummheit grenzt, wenn man sich ausgerechnet dorthin verirrt. Ob sie wirklich zaubern kann, wird im Märchen nicht erwähnt, aber dafür scheint sie reich und ein echter Messi zu sein, liegen doch überall in ihrem Haus zahlreiche Edelsteine und Goldstücke herum. Neben ihrem Haus und den darinnen befindlichen Reichtümern besitzt sie noch einen großen Backofen, der wohl ursprünglich zur Herstellung der zahlreichen Lebkuchen benutzt wurde, inzwischen allerdings zur Zubereitung fragwürdiger Speisen missbraucht wird, was – vor allem in dieser Kombination – letztendlich ihr Schicksal besiegelt.
Die Baba Jaga
Völlig anders kommt ihre russische Schwester daher. Die Baba Jaga kann tatsächlich zaubern und wird nicht zu unrecht geehrt und gefürchtet. Sie lebt in einem kleinen, soliden Häuschen, das auf Hühnerbeinen steht und nur mit einem bestimmten Spruch zum Anhalten gebracht werden kann. Wenn sie ihre Hütte verlässt, reist sie mit viel Gebrause in einem riesigen Mörser durch die Gegend, den sie mit einem Stößel steuert, während sie mit dem Besen ihre Spuren verwischt. Sie ernährt sich auf moralisch einwandfreie Weise und nimmt auch mal ein kleines Mädchen als Lehrling bei sich auf. Sie ist nicht böse, aber selbstbestimmt, und tut das, worauf sie gerade Lust hat, was für nervige Helden, die meinen, penetrant ihre Ruhe stören zu müssen, oder gar heimlich in ihre Hütte einbrechen, schon mal zum Problem werden kann.
Es gibt freilich Gerüchte, dass die Geländer am Rand der Hütte zuweilen aus Menschenknochen bestehen und von Totenschädeln verziert werden, aber, na ja, man muss ja nicht alles glauben.
Die gute Hexe
Es mag überraschen, aber es gibt tatsächlich auch Märchen, in denen gute Hexen auftreten. Sie verbergen sich allerdings oft unter anderen Namen wie Kräuterweiblein, Kluge oder Zauberfrau. Sie leben meist zurückgezogen in ihren ärmlichen Hütten im Wald und studieren dort die Mysterien der Natur. Ihre Zimmer sind vollgestopft mit Kräutern und Wurzeln und über dem Kaminfeuer kocht stets ein gut gefüllter Kessel. Wenn sich zu ihnen eine arme Jungfer in Not flüchtet oder ein junger Held eines kleinen Zaubers oder dringend einer Heilung bedarf, helfen sie gerne und wenden alles zum Guten.
Im November darf geträumt werden
Wie wir sehen, ist das Bild der Märchenhexe sehr vielschichtig. Nutzen wir also diesen Monat, um uns ein wenig vom grauen Alltag zu entfernen und uns vorzustellen, wie wir als Märchenhexe leben würden. Bauen wir uns ein kleines Domizil irgendwo, wo es uns gefällt, richten wir es auf unsere Hexenart ein, zaubern wir uns die Dinge, die wir uns schon immer zulegen wollten, und überlegen, wie wir wohl reagieren würden, wenn wir von einem Helden, einer armen Jungfer oder zwei bettelarmen Kindern besucht werden. Lernen wir die Märchenhexe, die tief verborgen in uns schlummert, kennen und wer weiß, ob wir auf dieser Reise nicht einen kleinen Schatz finden, der uns hilft, das eigene Leben etwas besser zu meistern.
Tipp der Hexe
Der November ist für viele Menschen der traurigste Monat des ganzen Jahres. Gerade alte und einsame Menschen leiden an diesen Tagen unter einem Gefühl der tiefen Niedergeschlagenheit. Sei also in diesem Monat besonders freundlich, geduldig und zuvorkommend und versuche, ein wenig Freude in das Leben anderer zu bringen. Oft kommt dann auch ein Lächeln zu dir zurück.
ganz ganz toll!!
Die Hexen haben ihren schlechten Ruf aus Märchen nicht verdient! Das hast du sehr gut auf den Punkt gebracht 🙂
Ich bin eine Hexe in mindestens Sechster Generation. In meiner FAmilie wurde die Gabe von den Müttern an die Töchter gegeben. Meine Urgroßmutter hat ein Buch mit Kräuterbuch mit Heilenden Rezepten geschrieben und ich benutze vieles immer noch davon. Kräuterhexen, so genannte weisse Hexen gibt es schon seit alten Zeiten und sie wurden unschuldig verfolgt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Das alte Wissen darf nicht verloren gehen und muss mit Sorgfalt weiter gegeben werden. Blessed be, Ariane
super Beitrag wie immer!
wunderbare Geschichte! 🙂 blessed be
ich stimme dem zu
Meine liebsten Märchen sind die mit den Hexen gewesen. Sehr schöner Beitrag